
BfV-Newsletter Nr. 1/2013 - Thema 2
Entwicklungstendenzen im Extremismus
Aufgabe des Verfassungsschutzes als „Frühwarnsystem“ ist es, Entwicklungsbedingungen und –potenziale im Extremismus zu analysieren. Einer Prognose voraus geht eine valide Kenntnis der Entwicklungstendenzen.
Phänomenübergreifend stellen wir derzeit folgende Tendenzen fest:
Wir beobachten eine Steigerung des Militanzpotenzials bei einem gleichzeitigen Rückgang des Gesamtpotenzials.
Extremisten wählen strukturelle Formen, bei denen weder eine festgefügte Organisation noch eine elaborierte Ideologie benötigt werden. Längst schon verzichten linksextremistische Autonome auf Strukturen, Neonazis propagieren eine „Organisierung ohne Organisation“, gewaltbereite Islamisten nutzen informelle Netzwerke.
Derartige strukturschwache Organisationsmodelle wären ohne die Kommunikationsrevolution nicht möglich. Insoweit wird das Internet zum Katalysator neuer Strukturen im Extremismus – bis hin zu Bewegungen, die ihren Ursprung in einem lediglich virtuellen Kern haben, dann jedoch in der Lage sind, reale Wirkungsmacht zu erlangen. Radikalisierung findet heute nicht mehr nur in Organisationen und Gruppen statt, sondern im Internet: Zum einen geschieht dies als virtuelle Selbstvergewisserung, zum anderen aber auch als Selbstradikalisierung.
Die Extremismen stehen in vielfältigen Wechselwirkungen zueinander.
So bestehen Wechselwirkungen im Sinne einer gegenseitigen Aufhetzung und Aufstachelung (Rechtsextremistische und linksextremistische Outing-Aktionen schaffen ein Klima latenter Gewalt. Rechtspopulisten und Rechtsextremisten provozieren Islamisten mit Mohammed-Karikaturen, woraufhin sich der Protest in Straßengewalt entlädt.)
Eine weitere Wechselwirkung stellt das Kopieren von Handlungsstrategien dar. (Anders Breivik, der 2011 in Norwegen mit zwei Anschlägen 77 Personen tötete, gab beispielsweise im Prozess an, von „al-Qaida“ gelernt zu haben. Ideologisch entkernt sind „lone-wolves“-Konzepte universell anwendbar.)
Ferner gibt es Wechselwirkungen zwischen legalistischen und militanten Formen,
zwischen virtuellen und realen Formen und selbstverständlich
zwischen Theorie und Praxis.
Wechselwirkungen bestehen aber auch zwischen inländischen und ausländischen Extremisten und vollziehen sich als Interaktion auf internationaler Ebene.
Die Lehre aus diesen Wechselwirkungen ist ganz eindeutig:
Wir dürfen die jeweiligen „Szenen“ nicht isoliert voneinander betrachtet. Stattdessen müssen wir genau beobachten, wie sie sich konfrontativ aufschaukeln oder auch affirmativ aufladen. Gerade diese Wechselwirkungen beeinflussen die Sicherheitslage hier in Deutschland.
Dies ist ein Grund für die Einrichtung des neuen „Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum“ (GETZ), in dem Polizeien und Nachrichtendienste unter Wahrung des Trennungsgebotes zusammenarbeiten, für die Phänomenbereiche Rechts-, Links- und Ausländerextremismus, Spionage und Proliferation. Ein anderer Grund war die gute Erfahrung, die wir mit den Koordinierungszentren im Bereich des Islamismus gemacht haben. Auch für die Internet-Auswertung haben wir eine gemeinsame Plattform geschaffen: die „Koordinierte Internetauswertung“ (KIA). Dies sind wichtige Bausteine für eine optimierte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden.
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Herausgeber: Bundesamt für Verfassungsschutz
Stand: Juli 2013