Navigation und Service

Dritte öffentliche Anhörung der Präsidenten der Nachrichtendienste des Bundes durch das Parlamentarische Kontrollgremium im Deutschen Bundestag

Eingangsstatement von BfV-Präsident Thomas Haldenwang

Datum 29.10.2019

Es gilt das gesprochene Wort!

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich begrüße diese Anhörung als Gelegenheit, um öffentlich eine aktuelle Momentaufnahme von der Sicherheitslage unseres Landes abzugeben.

Ich werde in der gebotenen Kürze Lagebilder ausgewählter Phänomenbereiche zeichnen – und dabei folgende Faktoren berücksichtigen:

  • Wie hat sich die jeweilige Lage im vergangenen Jahr entwickelt?
  • Welche Warnungen haben sich bestätigt?
  • Und was für Konsequenzen ziehen wir für unsere Arbeit?

Bereits vor einem Jahr habe ich in dieser Anhörung vor einer Lageverschärfung im Rechtsextremismus gewarnt. Dieser Trend hat sich nur zu deutlich bestätigt.

Auch wenn die Mitgliederzahlen rechtsextremistischer Parteien deutlich abnehmen, und auch wenn das rechtsextremistische Personenpotential mit rund 24.100 Personen auf hohem Niveau stagniert, schätzen wir weiterhin die Hälfte von ihnen als gewaltorientiert ein.

Seit geraumer Zeit berichtet unser Amt sowohl in öffentlichen wie vertraulichen Berichten, dass sich die gesamte Szene spürbar ausdifferenziert. Sie wird unübersichtlicher.

Dies spiegelt sich in Aktivitätsmustern wider, die sich mit den Schlagworten

  • Virtualisierung,
  • Radikalisierung
  • und Entgrenzung beschreiben lassen.

Messenger-Dienste, Chatgruppen, sogenannte „Imageboards“ oder Gaming-Plattformen

  • erschaffen virtuelle Anlaufstellen und virtuelle Netzwerke,
  • erhöhen die Reichweite extremistischer Agitation,
  • erschließen neue internationale Kontakte,
  • erleichtern die Emotionalisierung der Adressaten,
  • und erzeugen die berüchtigten „Echokammern“, in denen verschlüsselte Kommunikation praktiziert und geschlossene Weltbilder zementiert werden.

In einer Analyse von Anfang 2018 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz bereits prognostiziert, dass sich künftig terroristische Ansätze außerhalb der etablierten Szene bilden können.

Wir erkannten in allein handelnden Personen sowie Kleingruppen potenzielle Täter, die sich über abgeschirmte Kommunikation im Internet radikalisieren und vernetzen.

Im Verbund mit anderen Sicherheitsbehörden haben wir bereits derartige Gruppen identifizieren und stoppen können – ich nenne nur exemplarisch die Namen „Oldschool Society“, „Gruppe Freital“, und „Revolution Chemnitz“.

Auch unsere Einschätzung zum Gefahrenpotential terroristischer Attentäter, die sich im Internet radikalisiert haben und alleine agieren, ist leider sehr berechtigt.

So hat nach bisherigen Erkenntnissen der Täter beim antisemitisch motivierten Anschlag in Halle seinen Plan bis zur Tat mit niemandem geteilt.

Sein Modus Operandi reiht sich ein in eine internationale Kette von Tätern, die allenfalls über eine Ideologie der „Marke Eigenbau“ verfügen: Bei den Anschlägen in Oslo, Christchurch, El Paso und nach neuester Einschätzung des LKA-Bayern auch in München, traten die Attentäter mit grausamen Gewaltakten vor ein globales Publikum, um ein Fanal zu setzen. In den Fällen von Christchurch und Halle wurde sogar das Tatgeschehen als Livestream auf Plattformen platziert!

Hier ist ein missionarischer Tätertyp am Werk, der von seinen Vorgängern inspiriert ist und seine eigene Tat als Initialzündung für künftige Nachahmer versteht.

Neben der Virtualisierung und Radikalisierung beschäftigen uns die Entgrenzungstendenzen im Rechtsextremismus.

Die sprichwörtliche „rechte Ecke“, mit der sich trennscharf Extremisten vom bürgerlichen Lager unterscheiden lassen, gibt es nicht mehr. So haben wir es immer öfter mit rechtsoffenen Mischszenen zu tun – wie etwa beim Demonstrationsgeschehen in Chemnitz 2018.

Diverse Protagonisten der sogenannten „Neuen Rechten“ sind im politischen Vorfeld aktiv, um rechtsradikales bis rechtsextremes Gedankengut nicht mehr nur auf die berüchtigten Springerstiefel, sondern auf viele Füße zu stellen.

Es werden Standbeine im publizistischen Milieu etabliert und aktionistische Protestformen praktiziert, um Resonanz hervorzurufen.

Die „Neue Rechte“ ist in sich selbst heterogen. Während wir Teile des Spektrums im Rahmen eines Prüffalls oder als Beobachtungsobjekt bearbeiten, sind andere Akteure nicht – oder nicht eindeutig – rechtsextremistisch. Ideologieelemente und Bezugspunkte variieren, doch die Schwerpunkte liegen auf

  • Antiliberalismus,
  • Antipluralismus,
  • und dem Ethnopluralismus.

So vertritt bekanntlich die Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) ethnopluralistische Positionen, die sie gezielt an junge Menschen adressiert. Der Begriff „Pluralismus“ ist dabei eher eine schein-intellektuelle Nebelkerze, die Islamfeindlichkeit und einen ausgrenzenden Volksbegriff kaschiert.

Wir nehmen es sehr ernst, wenn eine Vielzahl von Akteuren – von klassisch rechtsextremen Parteien über neurechte Hipster bis hin zu der sogenannten „Artgemeinschaft“ oder den „völkischen Siedlern“ – den Nährboden für verfassungsfeindliche Grundeinstellungen mit zum Teil rassistischen, antisemitischen und rechts-esoterischen Weltbildern düngen.

In einer solch dynamischen Lage handeln wir – und zwar ebenfalls mit großer Dynamik:

Ich habe bei meinem Amtsantritt für diesen Phänomenbereich einen Personalaufwuchs um 50 Prozent angekündigt – und diese Aufstockung wurde umgesetzt.

Wir brauchen dieses Personal, denn

  • wir erhöhen unsere nachrichtendienstliche Vorfeldaufklärung.
  • Wir intensivieren die Analyse der „Neuen Rechten“, indem wir wissenschaftliche und operative Erkenntnisse verzahnen.
  • Wir intensivieren die bereits enge Zusammenarbeit mit dem BND, dem BKA, BAMAD und internationalen Partnern.
  • Wir richten in Abstimmung mit dem BAMAD und den Landesämtern für Verfassungsschutz eine Zentralstelle ein, um rechtsextremistische Umtriebe im öffentlichen Dienst zu untersuchen.
  • Wir unterstützen Ordnungsbehörden bei Verbotsmaßnahmen und verstärken die Prüfung von Vereinsverboten.
  • Und wir stärken unsere Analysekompetenz – gerade im digitalen Einsatzraum!
  • Dort müssen wir handlungsfähig sein! Wir müssen die operative Internetbeschaffung ausbauen sowie relevante Plattformen aufklären!
  • Die Identifizierung gewaltorientierter Einzeltäter, der Nachvollzug ihrer Kennverhältnisse und die Aufklärung von Netzwerken haben oberste Priorität!

Für dieses Ziel entwickeln wir unser Risikomanagement weiter, in dem wir auch im Rechtsextremismus sogenannte Personagramme nutzen. Dabei folgen wir positiven Erfahrungen aus der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus.

Und ich möchte darauf hinweisen, dass wir heute unser Hinweistelefon zum Rechtsextremismus „RechtsEX“ geschaltet haben.

Das islamistisch-terroristische Personenpotenzial ist gegenüber dem Vorjahr leicht gesunken – auf rund 2.170 Personen.

Seit August 2017 kam es zu keinem islamistisch motivierten Anschlag mehr in Deutschland. Die umfangreichen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden wirken.

Und das Pseudo-Kalifat des sogenannten Islamischen Staates (IS) ist territorial zerschlagen.

Dies ist eine erfreuliche Entwicklung – aber keine Entwarnung!

Ich möchte heute vielmehr dringend mahnen, nicht die falschen Schlüsse zu ziehen:

  • Der IS ist nicht untergegangen – sondern lediglich in den Untergrund!
  • Viele seiner Kämpfer sind tot, gefangen oder abgetaucht – aber die Ideologie ist noch sehr lebendig.
  • Das virtuelle Kalifat ist als Propagandawaffe weiterhin global aktiv und effektiv.
  • Und natürlich haben wir die Sorge, dass durch die instabile Konfliktlage in Nordsyrien IS-Kämpfer aus Gefängnissen entkommen und unbemerkt nach Europa gelangen können!
  • Und nachdem der Anführer al-Baghdadi vermutlich getötet worden ist, wird vermutlich auch der IS vor Ort geschwächt sein.

Die Sorge gilt aber nicht nur IS-Rückkehrern, sondern auch der Rückkehr des IS in die Herzen und Köpfe seiner Sympathisanten!

Denn es ist gerade auch hier in Deutschland keineswegs ausgeschlossen, dass der IS auch wieder am Boden zu neuer Stärke findet.

Die Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus hat sich also lediglich stabilisiert – und zwar auf hohem Niveau.

  • Nach wie vor rufen der IS und al-Qaida zu Terroranschlägen auf – vor allem gegen „weiche“ Ziele.
  • Nach wie vor ist auch Deutschland ein erklärtes Anschlagsziel!
  • Und nach wie vor belegt die hohe Zahl von Hinweisen und Exekutivmaßnahmen, dass Einzelpersonen und autonom agierende Gruppen für derartige Inspiration empfänglich sind!

Die Botschaft ist somit eindeutig:

Jeder Erfolg im Phänomenbereich Islamismus ist das Produkt harter Arbeit. Die Arbeit darf nicht reduziert, sondern muss fortgesetzt werden!

Auch wenn uns derzeit im Rechtsextremismus und Islamismus der größte Krafteinsatz abverlangt wird, behalten wir jeden Extremismus im Blickfeld:

Vor allem die 9.000 Linksextremisten, die wir als gewaltorientiert betrachten.

Sie begehen Straf- und Gewalttaten sowohl in Form von Sachbeschädigung und Brandstiftung als auch in Form gezielter Angriffe auf Personen.

Das Ziel- und Opferspektrum erstreckt sich auf

  • tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten,
  • Polizisten, politische Gegner und wirtschaftliche Entscheidungsträger,
  • Infrastruktureinrichtungen
  • oder Firmeneigentum.

Dabei ist das Aggressionsniveau kontinuierlich angestiegen. Nicht erst seit dem G20-Gipfel in Hamburg können viele Polizeibeamte bestätigen, dass auch die Gefährdung von Menschenleben von linksextremistischen Gewalttätern in Kauf genommen wird.

Jeder rechtsfreie Raum – sei es in Städten oder in den Wäldern des Hambacher Forstes – ist ein Angriff auf den liberalen Rechtsstaat – und damit auch auf die Freiheit zur demokratischen Opposition!

Linksextremisten verstehen es, zivilgesellschaftlichen Protest zu kapern. Es wird die politische Fieberkurve hochgetrieben, um die vermeintliche Systemfrage zu stellen.

Deshalb greifen sie besonders emotional besetzte Themen auf – wie etwa Kapitalismuskritik oder den Klimawandel.

Insofern wecken die aktuellen demokratischen Klimaproteste das Interesse und die Solidarität von Linksextremisten. Eine tatsächliche Unterwanderung ist jedoch bislang nicht erkennbar und wird von ernsthaften Akteuren, wie „Fridays-For-Future“, abgelehnt.

Ich fasse zusammen:

  • Wir beobachten weiterhin in allen Phänomenbereichen eine Dynamisierung durch Digitalisierung. – Ich denke dabei auch an unsere hohe Auslastung bei der Abwehr von Spionage und Cyberangriffskampagnen!
  • Durch die anhaltend hohe Bedrohungslage in allen Bereichen sind wir immer häufiger gezwungen, dass „eine zu tun, ohne das andere zu lassen“!
  • Die Risiken sind kein Nullsummenspiel, sondern verhalten sich additiv – was unseren Personal- und Ressourcenbedarf erklärt.

Und es erklärt unseren Bedarf an rechtlichen Befugnissen – wie die Online-Durchsuchung oder die sogenannte Quellen-TKÜ. Dieser Bedarf hat sich in den letzten Jahren nicht verändert, sondern verschärft! Wir müssen die Gegner unserer Demokratie überall dort stellen, wo sie aktiv sind – auch im Cyberraum!

Denn unsere freiheitlich demokratische Grundordnung spürt aus vielen Richtungen Gegenwind. Daher freuen wir uns über den kräftigen Rückenwind aus fast allen politischen Richtungen des Parlaments!

Ich danke Ihnen heute somit nicht nur für Ihre Aufmerksamkeit, sondern auch für Ihre Anerkennung unserer wichtigen Arbeit.