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Rede von BfV-Präsident Thomas Haldenwang auf dem 19. Symposium des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Berlin

Leicht gekürzte Fassung

„Wertvoll und wehrhaft – Die Demokratie im Wettstreit mit dem Autoritarismus“

Datum 22.05.2023

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter,

ich danke Ihnen für die wahren Worte zum Wert der Demokratie – und den wichtigen Impulsen zu ihrer Wehrhaftigkeit. In der Tat drohen Gefahren aus vielen Richtungen.

Für unser Symposium werden wir deshalb ganz bewusst den Blick auf die beiden großen Dimensionen der Bedrohung werfen:

  • auf auswärtige autoritäre Regime, die offen und verdeckt die Sicherheitsinteressen Deutschlands untergraben
  • und auf die Bestrebungen im Extremismus, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung von innen heraus bekämpfen.

Wir wollen die Dramatik des aktuellen Zeitgeschehens nutzen, um den Wert und die Wehrhaftigkeit der Demokratie vor den bedeutenden Aufgaben zu reflektieren, die vor uns liegen – denn sie verdienen all unsere Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Energie.

Und wertvoll – ja, das ist sie – unsere Demokratie! Offenkundig ist sie das bestmögliche politische Abbild der Würde des Menschen, die wir zurecht für unantastbar erklären.

Dass die Demokratie selbst jedoch keineswegs unantastbar ist, hat uns die Geschichte schmerzhaft gelehrt. Vor genau 100 Jahren – im Krisenjahr 1923 – nagen die Ruhrkrise, der Hitler Putsch und die Hyperinflation an den Grundfesten der jungen Weimarer Republik. Die gesamten 1920er-Jahre geraten liberale Demokratien weltweit unter Druck.

Politische Ideologien konkurrieren mit moderner Propaganda und neuen technischen Mitteln um die Massen. Sie kämpfen um Macht, Einfluss und Dominanz in einem neuen Jahrhundert:

  • Die Zeichen stehen auf Sturm.
  • Die Richtung ist unbekannt.
  • Und Gewalt ist allgegenwärtig.

Dem Aufstieg von Extremismus und Autoritarismus wird zu lange zu wenig entgegengesetzt. 1933 – vor 90 Jahren – fällt die Macht in die Hände einer gewählten extremistischen Partei, die Deutschland erst in eine totalitäre Diktatur führt – und schließlich in den totalen Untergang.

Der grundsätzliche Konflikt von liberalem Individualismus und autoritärem Kollektivismus ist jedoch uralt! Er begegnet uns schon in den antiken Stadtstaaten Athen und Sparta.

Und natürlich ist gerade die deutsche Geschichte ein Paradigma für diesen Widerstreit:

  • Vor 175 Jahren erhoben sich die Deutschen in der Revolution von 1848 für Freiheit und Einheit.
  • Deren blutiges Scheitern beendete zwar die Hoffnungen des Paulskirchen-Parlaments – konnte aber die Flamme der freien Debatte, den Ruf nach Frauen-Emanzipation und Selbstbestimmung nicht mehr aus der Welt schaffen.
  • Auf Restauration, Kaiserreich und Nationalismus folgte die labile Republik.
  • Nach der NS-Tyrannei spiegelte sich der Kampf der Ideologien buchstäblich im geteilten Deutschland wider.
  • Und nachdem die sozialistische DDR mit Mauer und Stacheldraht der geschlossenen Gesellschaft einen so symbolträchtigen wie tragischen Ausdruck verlieh, musste sie letztlich 1989 in einer friedlichen Revolution dem Ruf nach Freiheit weichen.

Der konkurrenzlose demokratische Triumphzug der 1990er-Jahre manifestierte für viele Beobachter scheinbar den finalen Sieg des Liberalismus über den Autoritarismus.

Heute ist es jedoch Konsens, dass wir nicht am Ende der Geschichte, sondern am Ende der Naivität angelangt sind.

Spätestens mit dem grausamen russischen Angriffskrieg – der nicht nur Städte in der Ukraine in Schutt und Asche legt, sondern die gesamte europäische Friedensordnung tief erschüttert – sind wir in der ernüchternden Realität des 21. Jahrhunderts angekommen.

Dort warten potente autoritäre Konkurrenten auf ihre Chancen – und lauern aufmerksam auf unsere Schwächen!

Ernüchterung und Realismus sind deshalb ein wichtiger Fortschritt auf dem Weg zu Sicherheit, Stabilität und Selbstvergewisserung.

Halten wir also mit eben jener Gewissheit fest:

Die liberale Demokratie steht für uns im aktuellen geopolitischen Wettstreit der Systeme niemals zur Wahl, denn sie ist lebendiger politischer Ausdruck der Freiheit und Menschenwürde – und damit per se schützenswert!

Wir stehen damit nicht nur in einer historischen Traditionslinie, sondern auch in der Pflicht, die Freiheit und Sicherheit der liberal-demokratischen Wertegemeinschaft immer wieder neu zu verteidigen. Dazu bedarf es jedoch einer profunden Kenntnis des Umfeldes, in dem wir uns behaupten müssen. Und in dieser Frage gibt es in der Tat erstaunliche Parallelen zu vielen Facetten des vergangenen Jahrhunderts:

  • Erneut erleben wir über zwei Dekaden eine Abfolge von Krisen, die das Versprechen auf Sicherheit und Wohlstand erschüttern – und den Fortschritts-Optimismus dämpfen.
  • Erneut beobachten wir den Aufstieg autoritärer Mächte und Ideen – und Schwächeanfälle von Demokratien, die viel Kraft durch interne Krisen verschleißen – in Europa und in Übersee.
  • Erneut bedroht ein autoritäres Regime im Kreml die Freiheit Europas.
  • Erneut ist Europas Sicherheit eng mit der transatlantischen Allianz verknüpft.
  • und erneut wird Personen- und Warenverkehr durch Sanktions- und Grenzregime durchtrennt.

Allerdings gibt es auch große Unterschiede – etwa zum einstigen Ost-West-Konflikt –, die wir zwingend berücksichtigen müssen:

  • Die aktuelle Sicherheitslage ereignet sich nicht nach einem Weltkrieg, sondern nach einer Ära der relativen Stabilität und Prosperität in Europa.
  • Europa, die USA, Russland und China operieren und konkurrieren heute in eng verflochtenen Räumen – insbesondere in der digitalen Sphäre.
  • Die Folgewirkungen von Konflikten sind dadurch von ungleicher höherer Komplexität – denn sie tangieren Länder, Lieferketten und Infrastrukturen auf dem gesamten Globus.
  • Auch kann von einer bipolaren Ordnung bislang keine Rede sein. Vielmehr bewegen wir uns in einer multipolaren und kompetitiven Welt-Unordnung, in der alte Allianzen erodieren und neue geschmiedet werden.

Zudem befeuern die Innovationen disruptiver Technologien den Aufstieg einer Hightech-Weltwirtschaft mit dem Ziel,

  • territoriale Räume zu durchdringen,
  • wirtschaftliche Abhängigkeiten zu generieren,
  • Normensetzungen zu prägen
  • und digitale Souveränität zu erreichen.

Dies ist ein weiterer beachtlicher Unterschied zum einstigen Ost-West-Konflikt: Heute kämpfen nicht mehr Sozialismus und Kapitalismus gegeneinander. Dieser Kampfschauplatz ist obsolet.

Im Kern ist es der reine Wettstreit von Diktatur und Demokratie, der auf etlichen Schauplätzen ausgefochten wird.

Wir sehen zudem keine ideologische Feindschaft mehr zwischen Moskau und Peking, sondern eine strategische Allianz, deren Motiv die Überwindung der liberalen Werteordnung ist.

Diese Auseinandersetzung müssen wir mit ganzer Kraft und ganzheitlichem Ansatz annehmen, denn unsere Gegner handeln bereits nach dieser Maxime – mit ganzer Kraft und ganzheitlichem Ansatz.

Mit Blick auf die Spionageabwehr zeigt die sogenannte Zeitenwende an dieser Stelle bereits deutliche Wirkung.

Das Bewusstsein für die umfangreichen externen Bedrohungen durch fremde Mächte und ihre Dienste ist nun auch in der Gesamtgesellschaft omnipräsent.

Das ist eine gute Nachricht!

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte ausdauernd, ausführlich und öffentlich vor den nachrichtendienstlichen Operationen Russlands und Chinas gewarnt – und dies lange vor dem aktuellen Konflikt.

In diesem Sinne hat auch die russische Invasion der Ukraine nicht unser gegnerisches Gegenüber verändert – jedoch in erheblichem Maße das Setting, in dem nun beide Seiten operieren. Wir haben sofort eine potentielle Lageverschärfung antizipiert aufgrund vieler eskalativer Faktoren.

Unsere Prognose hat sich bestätigt.

  • Die Arbeitsintensität,
  • der Umfang
  • und die Komplexität der Tätigkeiten russischer Dienste haben seit Kriegsbeginn spürbar zugenommen.

Dies ist plausibel, denn die konventionellen Informations-Zugänge haben sich für Moskau drastisch reduziert.

Auch durch die europaweite Ausweisung mehrerer Hundert russischer Nachrichtendienst-Mitarbeiter verloren seine Dienste ein zentrales Aktionsfeld. Jetzt sind sie gezwungen, ihr hohes Aufklärungsinteresse durch alternative Methoden zu stillen – zum Beispiel durch

  • Cyberangriffe,
  • klassische Agenten,
  • oder sogenannte eingeschleuste Illegale mit falscher Identität.

Für Deutschland sind damit die Risiken gestiegen. Hier verbietet sich jede Naivität.

Doch ohnehin hatten wir unsere Spionageabwehr bereits personell und organisatorisch verstärkt – unter anderem durch eine enge Verzahnung von Spionage-, Cyber- und Proliferationsabwehr, um die vielfachen Schnittmengen mit bestmöglicher Effizienz bearbeiten zu können.

Aktuell beobachten wir das russische Agieren intensiv, um jede Neuaufstellung und jede Eskalation der russischen Seite frühzeitig festzustellen.

Denn natürlich besteht im aktuellen Setting das erhöhte Risiko von Sabotagehandlungen, wie sie die Ukraine in vielfacher Form durch russische Cyberangriffe bereits erfahren musste.

Diese Fähigkeiten sind faktisch vorhanden – und können im Bedarfsfall auch gegen deutsche Ziele und Kritische Infrastrukturen gerichtet werden.

Seit Kriegsausbruch betreiben wir unsere Präventions- und Sensibilisierungs-Maßnahmen für gefährdete Stellen mit hoher Intensität.

Eine hohe Intensität verzeichnen wir auch bei Aufklärungsaktivitäten chinesischer Dienste. Hier steht weiterhin der Transfer von Know-how im Zentrum der Bemühungen.

Für das erklärte Ziel der globalen militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Führungsrolle setzt Peking auch für Spionageoperationen unverändert enorme menschliche und finanzielle Ressourcen ein.

Wir beobachten dabei sowohl aufwendige und komplexe Cyberangriffskampagnen als auch ein gesteigertes Interesse an der Ausspähung der deutschen Politik auf allen Feldern.

Während sich Moskaus Revanchismus als aggressiv und militaristisch demaskiert hat, handelt Peking weitaus diskreter, strategischer und mit langfristiger Zielsetzung.

Und während Russland buchstäblich aus allen Rohren schießt, um die Welt zurück in die Vergangenheit zu zwingen, spielt die Zeit dem chinesischen Wachstumskurs in die Hände. China hat die liberale Ordnung lange und gewinnbringend genutzt.

Peking agiert somit zugleich als Handelspartner und als Systemrivale. Hier gilt dann der Spruch: Russland ist der Sturm – China ist der Klimawandel.

Es ist ein weiterer Verdienst der Zeitenwende, dass die Dimension der Systemrivalität klarer denn je gesehen wird.

Entgegen aller Erwartungen des Westens hat Peking die ökonomische Modernisierung des Landes erfolgreich organisieren können, ohne zugleich eine institutionelle Liberalisierung folgen zu lassen.

Vielmehr wurden moderne Kommunikations-Technologien unter Zensurvorbehalt gelegt und eine abgeriegelte nationale Infrastruktur aufgebaut. Es wird

  • der ungefilterte externe Austausch unterbunden,
  • die eigene Internetwirtschaft protegiert
  • und ein digitales Überwachungssystem installiert

– als alternativer way-of-life einer autoritären Moderne.

China verfolgt damit erkennbar eine sinozentrische Ordnung mit hegemonialen Ambitionen.

Wir spüren dies nicht nur in Abhängigkeiten, sondern auch in verstärkten Einflussaktivitäten.

Dies – meine Damen und Herren – führt uns zum Themenkomplex der hybriden Bedrohungen, die zivile und para-militärische Mittel kombinieren, um das gesellschaftspolitische Gefüge eines Landes nachhaltig zu schwächen.

Aus gutem Grund werden wir diesem Phänomen heute ein eigenes Panel widmen.

Denn wenn fremde Staaten diesen Aggressionsmodus wählen, dann verlassen sie die legitime Ebene des ökonomischen und politischen Wettbewerbs – und attackieren uns verdeckt auf dem Feld der Rivalität.

Obwohl die Modi Operandi aus der Geschichte wohlbekannt sind, erweitert die katalytische Wirkung neuer Technologien die Erfolgsaussichten beträchtlich.

Hybride Aggressoren bewegen sich mit Vorliebe auf den porösen Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sowie analoger und virtueller Welt.

Indem sie das Gefechtsfeld auf nahezu alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnen – Politik, Wirtschaft, Medien oder Kultur –, sind derartige Kampagnen das ideale Wirkmittel im aktuellen Wettstreit um Einfluss und Dominanz.

Wenig überraschend sind die maßgeblichen hybriden Akteure gegen Deutschland Russland und China. Dabei beobachtet unser Bundesamt überwiegend Einflussnahme-Aktivitäten und Cyberangriffe

  • staatlicher,
  • halb-staatlicher
  • oder staatlich gelenkter Akteure.

Während Chinas Einflussnahme bei der eigenen Diaspora, bei Bildung und Forschung oder wirtschaftlichen Drohkulissen ansetzt, sind Operationen im Informations- und Cyberraum Disziplinen, in denen sich Russland negativ auszeichnet.

Seit Kriegsausbruch bedienen seine Einflussakteure nicht nur etliche Kanäle mit pro-russischen Narrativen, sondern kreieren zudem eine partizipative Wechselwirkung mit Milieus in Deutschland.

Dabei wird Desinformation direkt an Verschwörungsgläubige und extremistische Spektren an den politischen Rändern der Gesellschaft adressiert.

Dort wird sie aus eigener Motivation und über eigene Kanäle aufgegriffen, weiterverbreitet und in ihrer Wirkung verstärkt.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

an dieser Stelle treffen wir auf das beunruhigende Faktum, dass die wirkmächtigen Umtriebe auswärtiger autoritärer Regime mit dem Aufstieg autoritärer Ideen im Inland korrelieren und interagieren.

Sowohl externe Einflussakteure als auch inländische Extremisten haben Dank digitaler Kommunikationsmittel nicht nur einen gut gefüllten Werkzeugkasten, sondern finden auch einen reich gedeckten Tisch an Themen vor.

Mit dem russischen Angriffskrieg wird die ohnehin starke Verunsicherung und Polarisierung in Teilen der Gesellschaft nun mit weiteren angstbesetzten Diskursen angereichert – und aufgeheizt.

Dies sind wahre Goldadern für die oft genannten geistigen Brandstifter – für

  • neurechte Demagogen,
  • extremistische Ideologen,
  • Verschwörungs-affine Wirrköpfe
  • und Einflussakteure fremder Mächte.

Sie alle sind rein destruktive Player! Sie sind Krisen-Profiteure, denn sie bewirtschaften und kultivieren Angst!

In den abgeschotteten und überhitzten social media-Treibhäusern überdüngen sie gezielt die Emotionen und nähren das Wachstum von Wut.

Auch dieses Muster hat sich verstetigt. Digitaler Aktivismus in den Protestarenen des Internets, politische Polarisierung und radikal-aggressive Rhetorik entfalten allein noch keine Verfassungsschutz-Relevanz.

Aber wir erkennen nachweislich auch im Delegitimierungs-Spektrum Bestrebungen, die extremistisch agieren und zum Teil die Verbindung mit Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Selbstverwaltern eingehen.

Diese standen wiederrum in jeder Hinsicht bereit, um anlässlich der Inflationsentwicklung und der viel beschworenen Energiekrise Wind zu säen – in der Hoffnung, einen Sturm zu ernten.

Sie bekamen jedoch nur ein laues Lüftchen auf die Segel.

Unser Bundesamt hatte sich die vielen Prognosen, die einen „Heißen Herbst“ oder „Wutwinter“ erwarteten, ohnehin nicht zu eigen gemacht.

Und tatsächlich: Nach einer kleineren Welle an Protesten bewegte sich das Demonstrationsgeschehen auf sehr niedrigem Niveau und umfasste primär verschiedene Gruppen des Rechtsextremismus und -radikalismus.

In Ostdeutschland sahen wir etwa die rechtsextremistische Partei Freie Sachsen auf den Straßen. Wir sahen eine sehr stark rechts außen angesiedelte Szene, die aber niemals die Dimension erreicht hat, wie es prognostiziert wurde.

Dennoch nehmen wir dieses Phänomen ernst!

Denn die staatsfeindliche Haltung vieler Protagonisten ist extrem opportunistisch und ideologisch äußerst flexibel. Wir beobachten bereits, wie erneut das Thema Migration zur Mobilisierung entdeckt wird.

Dieses „Themen-Hopping“ entlarvt die verbindende Klammer aller Akteure:

  • die Feindschaft gegenüber dem Staat,
  • seinen Repräsentanten
  • und dem Demokratieprinzip.

Und sie demaskiert einmal mehr die Manager der Empörung – wie etwa diejenigen der Neuen Rechten – die Verunsicherung zur Angst – und die Angst zur Wut steigern wollen.

Trotz ihres vordergründigen Patriotismus wollen sie gesellschaftliche Bruchlinien nicht heilen, sondern vertiefen.

Wir werden nicht müde zu betonen, dass die Brandstifter und Stichwortgeber von Hass, Hetze und Extremismus von uns nach genauer Prüfung auch so benannt werden.

Und so haben wir nach mehrjähriger, gewissenhafter Verdachtsfall-Bearbeitung jüngst

  • das „Institut für Staatspolitik“
  • und den Verein „Ein Prozent e.V.“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft.

Ihre Positionen sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und es bestehen keine Zweifel mehr, dass diese Zusammenschlüsse verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen. Sie werden deshalb von uns entsprechend eingeordnet und aktiv bearbeitet.

Umso schärfer müssen wir jeden Verdacht prüfen, dass auch in Parlamenten und damit im Blutkreislauf der Demokratie extremistische Bestrebungen Platz nehmen könnten.

In der gründlichen Beobachtung der Alternative für Deutschland als Verdachtsfall werden wir zu einem geeigneten Zeitpunkt zu einer Bewertung kommen müssen. Der Kurs dort steht nach Rechtsaußen.

Meine Damen und Herren,

im Kampf gegen den Extremismus machen wir also nicht den Fehler, nur auf Gewalttaten zu achten. Denn es ist in erster Linie nicht die Gewaltorientierung, die eine Entgrenzung des Extremismus bewirkt. Es sind vielmehr die verbalen und mentalen Grenzverschiebungen, die in den Herzen und Köpfen aktiv

  • die Entsolidarisierung mit Bevölkerungsgruppen,
  • die Enthemmung des politischen Diskurses
  • und die Entfremdung von der Demokratie befeuern.

Gleichwohl macht uns die hohe Gewaltorientierung in fast allen Phänomenbereichen große Sorgen. Denn Gewalt ist am Ende das reale Wesen und die Konsequenz jeder extremistischen Radikalisierung.

Dies kennen wir vielfach aus dem islamistischen Dschihadismus und Terrorismus, der uns seit zwei Dekaden in Atem hält. Hier ist Gewalt nicht nur Mittel zum Zweck, sondern beinahe gelebte Praxis einer menschenverachtenden Ideologie.

Der spürbare Rückgang islamistisch motivierter Anschläge in Deutschland erlaubt – auch aufgrund aktueller Entwicklungen – keine Entwarnung, sondern ist das Produkt harter Arbeit und vieler Exekutivmaßnahmen von Verfassungsschutz und Polizei.

Auch unsere Warnung vor dem hohen Radikalisierungsniveau im Linksextremismus bleibt zutreffend. Kleine, abgeschottete Gruppen innerhalb der gewaltbereiten Szene begehen akribisch geplante und oftmals äußerst schwere Gewalttaten. Sowohl der professionelle Planungsgrad als auch das Maß an Brutalität sind erschreckend.

Im Rechtsterrorismus haben sich immer wieder Gruppierungen gebildet, die von den Sicherheitsbehörden oftmals im Frühstadium zerschlagen werden konnten. Ich nenne aus jüngster Zeit etwa

  • die Gruppierung „Revolution Chemnitz“
  • oder die sogenannte „Gruppe S.“

Dennoch sehen wir die Gefahrpotentiale durch einzelagierende Täter, die sich außerhalb der Szene selbst radikalisieren.

Und dass Verschwörungsmythen Gewalt gebären können, belegte Anfang Dezember die groß angelegten Exekutivmaßnahmen gegen eine Vereinigung, die sich die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung zum Ziel gesetzt hatte.

Mehrere Landesbehörden für Verfassungsschutz, unser Bundesamt und Polizeibehörden waren an der operativen Aufklärung des Sachverhalts beteiligt.

Die Gruppierung hatte sich mindestens seit November 2021 um den mutmaßlichen Rädelsführer gebildet. Ihre Mitglieder hatten sich radikalisiert und ihre Vorbereitungen für den geplanten Umsturz an einem „Tag X“ immer weiter intensiviert. Sie waren der festen Überzeugung, es existiere ein sogenannter „Deep State“, welcher das Land im Geheimen regiere.

Wenngleich die Gruppierung primär dem Reichsbürger-Spektrum zuzurechnen ist, bestehen auch ideologische und personelle Bezüge zu den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. Der Sachverhalt zeigt damit exemplarisch eine gewaltbereite Mischszene sowie den Entgrenzungsprozess zwischen den verschiedenen Szenen und Milieus.

Meine Damen und Herren,

wir haben uns eingangs dem Realismus verpflichtet, um sowohl den Stellenwert der Demokratie zu reflektieren als auch die Bedingungen, unter denen wir sie behaupten müssen.

Dabei ist deutlich geworden, dass die vor uns liegenden Aufgaben anspruchsvoll sind. Wir müssen uns potenten Mächten sowie extremistischen Bestrebungen entgegenstellen, die ein illiberales Modell des 21. Jahrhunderts entwerfen.

In einer hochgradig vernetzten Welt ist unsere Ausgangslage äußerst komplex. Die tektonischen Verschiebungen zugunsten einer multipolaren Weltordnung, in der Europa zur geopolitischen und technologischen Peripherie werden könnte, zeichnen sich ab.

Wir stehen also vor einem Langstreckenlauf. Daher lohnt sich der Blick nach vorn und die Frage:

Was wird uns auf dieser Strecke noch begegnen?

Unübersehbar spielt bereits heute die digitalisierte Kommunikation eine Schlüsselrolle für den Extremismus und hybride Aggressoren. Dies wird sich auch in der Zukunft nicht ändern.

Der Philosoph Jürgen Habermas verweist auf den revolutionären Charakter der neuen Medien. Die Entgrenzung der beschleunigten Kommunikation setze eine ambivalente Sprengkraft frei, denn durch den redaktionslosen Plattformcharakter der neuen Medien entstünden konkurrierende Öffentlichkeiten – und eine gefährliche Fragmentierung der Gesellschaft.

Mit Recht vergleicht er die neuen Medien mit der Einführung des Buchdrucks – welcher ebenfalls die Soziologie der Gesellschaft gravierend veränderte.

Die langfristigen Folgen dieser Entwicklung – gleichsam von Gutenberg zu Zuckerberg – können wir nur erahnen!1

Ihre Brisanz für die tägliche Arbeit des Verfassungsschutzes können wir jedoch bereits bestätigen.

Die fortschreitende Nutzung der neuen Medien und die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz werden mit großer Sicherheit zu einer immer schnelleren und globalen Verbreitung von ausgefeilter Desinformation beitragen.

Wir befinden uns offenkundig in einer Sturm-und-Drang-Phase disruptiver Technologien, denen wir mit der nötigen Gelassenheit, aber auch aller ernsthaften Sorgfalt begegnen müssen.

Denn auch unsere Innere Sicherheit ist heute schon abhängig von den Konfliktlagen in aller Welt – und bereits morgen auch von Emerging Technologies – wie etwa KI oder Quantencomputing. Sie werden mitentscheiden über

  • Resilienz,
  • Dominanz
  • und Einfluss.

Insbesondere China forciert Vorherrschaft in allen Schlüsselbranchen und Emerging Technologies, um die neue digitale Weltordnung primär nach eigenen Wünschen zu gestalten.

Mit Blick auf diese Ausgangslage benötigen wir im Wettlauf der Systeme einen langen Atem und Einsicht in unbequeme Wahrheiten.

Wir müssen uns eingestehen, dass in der jüngeren Vergangenheit konkurrierende Player als Trittbrettfahrer der liberalen Ordnung unser Reservoir an strategischen Optionen auch zu unseren Ungunsten wandelten.

Diese asymmetrische Offenheit der Demokratien ist ein Wettbewerbsnachteil, den wir nur durch erhöhte Resilienz korrigieren können.

Denn so, wie der Staat aktiv der Unwucht des Klimawandels in Form einer Energiewende entgegentritt, so bedarf es auch großer und langfristiger Initiative zur Härtung der offenen Gesellschaft, um sie im Wettkampf der Systeme durch eine Sicherheitswende souverän zu halten.

Jedes Investment in die wehrhafte Demokratie dient gerade dem Zweck, eine neue konfrontative Blockbildung sowie die fatalistische Abkehr vom Multilateralismus zu verhindern!

Unter Franklin D. Roosevelt begriffen sich die Vereinigten Staaten in einer ungleich dunkleren Stunde als Arsenal der Demokratie. Auch heute müssen wir ihre Arsenale befüllen; jedoch nicht allein mit militärischen Mitteln, sondern auch mit

  • einer robusten Cybersicherheits-Landschaft,
  • starken Sicherheitsbehörden,
  • starken nationalen und internationalen Sicherheitspartnerschaften,
  • und einer starken, lebendigen und vernetzten Zivilgesellschaft, in der die demokratische Mitte und Mehrheit auch deren Gesicht und Stimme ist!

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mit klarem und beherztem Verstand erkennen wir die gute Nachricht: Wir haben es selber in der Hand!

Wir brauchen uns nicht zu sorgen vor dem Vergleich der Systeme.

Unsere Gegner verteidigen die Freiheit eines Regimes vor seinen Untertanen.

Wir verteidigen mit der Demokratie die Würde freier Bürger!

Autoritäre Regime und Ideologien sind nicht durch demokratische Mehrheiten legitimiert. Sie bedürfen der Anerkennung von außen – oder zumindest äußerer Feindbilder. Sie leben von äußeren Konflikten und Krisen, die sie in ihrem Inneren nicht zulassen und abbilden können.

Nur unsere Schwäche ist ihre Stärke!

Wir müssen also nur die Furcht selbst fürchten.

Denn wenn wir uns besinnen, erkennen wir:

Der Sieg der Demokratie ist, dass sie existiert – und in den Worten und Taten von Demokratinnen und Demokraten fortbesteht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

1 Vgl. „From Gutenberg to Zuckerberg: disruptive innovation in the age of the internet“, John Naughton, 2014