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Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Terrorismus.

Die Aufnahme zeigt einen schreiend posierenden Skinhead

Das rechtsextremistische Personenpotenzial umfasste Ende 2022 nach Abzug von Mehrfachzuordnungen 38.800 Personen (2021: 33.900). Die Zahl der Rechtsextremisten, die als gewaltorientiert eingestuft werden, ist auf 14.000 Personen (2021: 13.500) angestiegen.

Rechtsextremismuspotenzial1

2020

2021

2022

In Parteien221.85019.30016.650
In parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen37.8008.5008.500
Weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial413.70015.00016.000
Summe nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften33.30033.90038.800
Davon gewaltorientierte Rechtsextremisten13.30013.50014.000
1 Die Zahlen sind zum Teil geschätzt und gerundet.
2 Darunter fallen auch unter anderem die Mitglieder der „Freie Sachsen“ und der „Neue Stärke Partei“ (NSP). In den Berichtsjahren 2020 und 2021 wurden zudem die JA (Verdachtsfall) und der damals als Verdachtsfall bearbeitete „Flügel“ gezählt.
3 Hierunter wird auch das Personenpotenzial der Beobachtungsobjekte „COMPACT-Magazin GmbH“, „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD), „PI-NEWS“, „Institut für Staatspolitik“ (IfS), „Antaios-Verlag“ (Verdachtsfall) und „Ein Prozent e.V.“ sowie der Teil von insgesamt 1.250 rechtsextremistischen „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ gezählt, der parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen zuzurechnen ist.
4 Hierzu zählt im Berichtsjahr der Teil von insgesamt 1.250 rechtsextremistischen „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“, der keiner festen Struktur zuzurechnen ist.

Rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten

0 :Straf- und Gewalttaten gab es im Jahr 2021.

Die Gesamtzahl rechtsextremistischer Straf- und Gewalttaten stieg im Vergleich zum Vorjahr um 3,8 % (2021: 20.201; 2022: 20.967). Propagandadelikte (13.026) bildeten wiederum mit 62,1 % den Hauptanteil der rechtsextremistischen Straftaten. Im Vergleich zum Vorjahr stieg im Berichtsjahr die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten um 7,5 % (2021: 945; 2022: 1.016). Körperverletzungsdelikte (879 Körperverletzungen) bildeten mit 86,5 % an der Gesamtzahl der Gewaltdelikte den größten Anteil und bewegten sich somit in etwa auf dem gleichen prozentualen Niveau des Vorjahrs (2021: 82,9 %, 783).

Entwicklung der rechtsextremistischen Straf- und Gewalttaten 2019 bis 2021

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Mehr zum Thema: „Zahlen und Fakten“

Instrumentalisierung von Krisen

Anschluss an bürgerlich-demokratische Kreise zu erreichen bleibt das Ziel von Rechtsextremisten. Wurden zu Beginn des Berichtsjahrs noch die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen instrumentalisiert, waren nach den weitgehenden Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen im Herbst und Winter die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine wie Inflation und eine drohende Energiekrise Themenschwerpunkte rechtsextremistischer Agitation. Wiederholt wurde dabei ein „Heißer Herbst“ heraufbeschworen, welcher in einen „Wutwinter“ übergehen sollte. Nachdem die Agitation nicht in der breiten Bevölkerung verfing, auch aufgrund des Ausbleibens einer Energiemangellage, wurde das Thema „Migration“ wieder verstärkt von Rechtsextremisten aufgegriffen. Auch wenn vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen die Zahl der rechtsextremistischen Demonstrationen im Vergleich zum Vorjahr um 65 % auf 145 (2021: 88) anstieg, erreichte sie quantitativ nicht die Ausmaße der Proteste im ersten Jahr der Pandemie.

Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine differenzierten Rechtsextremisten ihre zuvor mehrheitlich prorussische Haltung. In weiten Teilen zeigte sich die Szene befürwortend und verständnisvoll für das russische Vorgehen. Teile des neonazistischen Spektrums positionierten sich jedoch proukrainisch. Diese divergierenden Sichtweisen haben im Berichtsjahr aber nicht zu Bruchlinien innerhalb der rechtsextremistischen Szene geführt.

Am Beispiel des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine lässt sich die Dynamik des Antisemitismus und vor allem von antisemitischen Verschwörungstheorien verdeutlichen. So begann umgehend nach dem Angriff eine Umdeutung des tagesaktuellen Geschehens durch rechtsextremistische Akteure hin zu antisemitischen Erzählungen, nach denen beispielsweise der Krieg Teil einer vermeintlichen „jüdischen“ Strategie zur Erlangung der Weltherrschaft sei. Darüber hinaus stellt im rechtsextremistischen Antisemitismus auch die Coronapandemie weiterhin einen wesentlichen Faktor bei der Verbreitung von offenen oder chiffrierten antisemitischen Verschwörungstheorien dar.

Rechtsextremistische „Erlebniskultur“: Musik und Kampfsport

Auch im Jahr 2022 hatte rechtsextremistische Musik eine wichtige Bedeutung innerhalb des deutschen Rechtsextremismus. Mit dem weitgehenden Wegfall der Corona-Schutzmaßnahmen ab dem Frühjahr 2022 war ein Anstieg der Musikveranstaltungen feststellbar. Die Zahl der Konzerte lag noch weit unter dem Niveau der Zeit vor der Pandemie.

Besucherstarke Musikgroßveranstaltungen mit mehr als 500 Teilnehmern fehlten im Berichtsjahr erneut völlig. Insgesamt liegt die Zahl der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen in Deutschland im Jahr 2022 jedoch durch den starken Anstieg der Liederabende und kleinerer sonstiger Veranstaltungen mit Musik wieder in etwa auf dem Niveau vor Beginn der Coronapandemie.

Entwicklung der rechtsextremistischen Musikveranstaltungen in den Jahren 2019 bis 2022

201920202021202220406080100120140KonzerteLiederabendesonstige Musikveranstaltungen*

*Darunter fallen unter anderem Demonstrationen, Parteiveranstaltungen oder Rednerauftritte, die von musikalischen Darbietungen rechtsextremistischer Interpreten flankiert werden.

Logo Kampf der Nibelungen

Neben der rechtsextremistischen Musik hat sich Kampfsport als Teil der rechtsextremistischen „Erlebniskultur“ etabliert. Nach der Aufhebung der staatlichen Schutzmaßnahmen fanden ab Frühjahr 2022 wieder zahlreiche kleinere szeneinterne Kampfsportveranstaltungen wie Turniere, Vorführungen, „Selbstverteidigungskurse“ und gemeinsame Trainings statt. Nach den Verboten und Einschränkungen des größten europäischen rechtsextremistischen Kampfsportformats „Kampf der Nibelungen“ (KdN) und seiner Ersatzveranstaltungen in den Jahren 2019, 2020 und 2021 sahen die Organisatoren des KdN im Jahr 2022 erstmals seit Gründung des Formats im Jahr 2013 von einer Veranstaltung ab.

Mehr zum Thema: „Rechtsextremistische Erlebniswelt: Musik und Kampfsport“

Gefahr rechtsterroristischer Ansätze

Eine besondere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden stellen selbstradikalisierte Täter dar, die ohne erkennbare Anbindung an bereits bekannte rechtsextremistische Szenestrukturen agieren. Auch weitere einschlägige Merkmale wie die ideologische Verortung sind in den letzten Jahren aufgeweicht.

Besonderes Augenmerk liegt hierbei vor allem auf Aktivitäten im Internet, insbesondere in einschlägigen Chatgruppen in Messengerdiensten. Diese stellen oft eine Art „Katalysator“ dar, der die Radikalisierung ihrer Teilnehmer deutlich verstärkt. So finden sich im Internet zahlreiche rechtsextremistische Chatgruppen mit teilweise mehreren Tausend Mitgliedern, in denen extreme Gewaltfantasien bis hin zu Mordaufrufen an der Tagesordnung sind. Hier rechtzeitig solche Personen zu identifizieren, die auch tatsächlich Anschläge und terroristische Taten planen und dies nicht nur durch eine aggressive Rhetorik vorgeben, ist eine zentrale Herausforderung für die Sicherheitsbehörden.

Onlinevernetzung und Radikalisierung gewaltaffiner Minderjähriger

Die Verfassungsschutzbehörden stellen zunehmend eine Veränderung der Altersstruktur des Personenpotenzials im gewaltorientierten Rechtsextremismus fest. Vermehrt werden minderjährige Akteure bekannt, die zum Teil die Schwelle zur Strafmündigkeit noch nicht überschritten haben, sich aber zumindest verbal extremistisch und gewaltbereit äußern. Eine Anbindung an klassische rechtsextremistische Strukturen ist dabei zumeist kaum oder gar nicht zu erkennen. Die oft nur mit großem Aufwand identifizierbaren Personen nutzen neben Telegram primär alternative Internetplattformen für den Austausch mit Gleichgesinnten. Eine hervorgehobene Bedeutung kommt dabei nicht regulierten Imageboards zu, in denen Gewaltdarstellungen und rechtsterroristische Manifeste kursieren.

Auf diesen Plattformen bilden sich digitale „Echokammern“, in denen Radikalisierungsprozesse initiiert und beschleunigt werden können. Der Nutzerkreis setzt sich vorwiegend aus anonymen und allein agierenden Personen zusammen, die zum Teil einen regelrechten Kult um einzeln agierende rechtsextremistische Terroristen oder Amoktäter betreiben. Beispielsweise werden diese entsprechend der Anzahl ihrer Todesopfer in Ranglisten bewertet oder bildlich als Heilige dargestellt.



So wird insbesondere der Attentäter von Christchurch (Neuseeland), der 2019 in zwei Moscheen 51 Menschen tötete, verehrt. Aber auch die Täter hinter den Anschlägen auf die Synagoge in Halle (Sachsen-Anhalt) 2019, auf einen Supermarkt in einem afroamerikanisch geprägten Viertel in Buffalo (USA) und auf eine LGBTQ-Bar in Bratislava (Slowakei) im Jahr 2022 erhielten die Anerkennung in dieser sogenannten Attentäter-Fanszene.
Dabei spielt auch die Gamifizierung solcher Anschläge mittels Livestreams eine Rolle, durch die eine Interaktions- und Motivationssteigerung der Rezipienten erwirkt werden soll. Die Anhänger verbinden die Glorifizierung von Attentätern nicht selten mit Ankündigungen, selbst solche Taten in ihrem persönlichen Umfeld durchführen zu wollen.

Rechtsextremistische Parteien

Auch wenn NPD, „DIE RECHTE“ und „Der III. Weg“ als rechtsextremistische Parteien bei Wahlen weiterhin keine Rolle spielten, leisteten ihre Organisationsstrukturen einen wichtigen Beitrag für die szeneinterne Vernetzung und den inneren Zusammenhalt der rechtsextremistischen Szene. Zudem traten mit der Regionalpartei „Freie Sachsen“ und der neonationalsozialistisch geprägten Kleinstpartei „Neue Stärke Partei“ zwei neue rechtsextremistische Parteien verstärkt in Erscheinung.

Die NPD, die sich auf einem Parteitag im Juni 2023 in „Die Heimat“ umbenannte, fand auch im Berichtsjahrfand auch im Berichtsjahr nicht zu einem klaren strategischen Kurs. Nach dem fortgesetzt schlechten Abschneiden der Partei bei Wahlen in den letzten Jahren sind mehrere Reformschritte vorgesehen, darunter eine organisatorische Verschlankung, erhöhte Anschlussfähigkeit und eine verstärkte Arbeit im vorpolitischen Raum. Darunter fällt auch das Bestreben, sich verstärkt mit anderen Akteuren im rechtsextremistischen Spektrum zu vernetzen und auch von diesen zu lernen. Die NPD zeigt damit, dass sie nicht mehr in erster Linie als Wahlpartei, sondern verstärkt als Kooperationspartner in einem breiten rechtsextremistischen Bewegungsbündnis wahrgenommen werden möchte.


Logo der Partei „DIE RECHTE“

Der bereits im Jahr 2021 wahrnehmbare Niedergang der Partei „DIE RECHTE“ setzte sich auch 2022 fort. Die meisten der Landesverbände bestehen nur noch auf dem Papier.

Faktisch waren im Berichtsjahr nur noch in dem von Neonazis dominierten Landesverband Nordrhein-Westfalen relevante Aktivitäten festzustellen. Dennoch bemühte sich „DIE RECHTE“ trotz der innerparteilichen Probleme weiterhin um den formalen Erhalt des Parteienstatus.

Unter ihrem 2021 neu gewählten Bundesvorsitzenden trieb „Der III. Weg“ den Ausbau von Parteistrukturen auch 2022 weiter voran. Mit der Gründung von zwei neuen „Stützpunkten“ in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt verfügt die Partei nun über insgesamt 22 dieser organisatorischen Einheiten. Flankiert wurde die Entwicklung durch die Eröffnung von drei neuen Partei- und Bürgerbüros. Die Bemühungen der Partei, durch eine verstärkte Ausrichtung an gesellschaftlich relevanten Themen neue Mitglieder und Akzeptanz in der Mehrheitsbevölkerung zu gewinnen, zeigen jedoch weiterhin keine nachhaltigen Erfolge.

Logo „Freie Sachsen“


Die 2021 gegründete rechtsextremistische Regionalpartei „Freie Sachsen“ baute im Berichtsjahr vier Kreisverbände (Erzgebirgskreis, Chemnitz, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Mittelsachsen) auf. Programmatisch tritt die Partei indifferent auf und verzichtet auf jeden Dogmatismus, der zu Spaltung und Differenzen führen könnte. Die ideologische Ausrichtung der „Freien Sachsen“ ergibt sich folglich weniger aus der Programmatik als vielmehr aus dem einschlägigen extremistischen Hintergrund ihrer Führungsfunktionäre und aus dem Auftreten der Partei. Wichtiger als die ideologische Verortung ist das strategische Kalkül der „Freien Sachsen“. So versteht sich die Partei als Vernetzungsplattform der sächsischen Protestbewegungen und lehnt daher jegliche Distanzierung zu anderen rechtsextremistischen Akteuren ab. Unter dieser Prämisse treten Parteifunktionäre regelmäßig gemeinsam mit Protagonisten anderer rechtsextremistischer Bestrebungen wie der „COMPACT-Magazin GmbH“ oder der NPD auf.

Mit noch nicht rechtskräftigem erstinstanzlichem Urteil vom 8. März 2022 bestätigte das Verwaltungsgericht Köln (Nordrhein-Westfalen) die durch das BfV vorgenommene Einstufung der „Alternative für Deutschland“ (AfD) als Verdachtsfall. (Die AfD hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist derzeit beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen anhängig.) In Verlautbarungen der Partei und einer Reihe von Funktionsträgern kommen ein ethnisch-kulturell geprägtes Volksverständnis sowie fremden- und minderheitenfeindliche und muslim- und islamfeindliche Positionen zum Ausdruck, welches im Widerspruch zur Offenheit des Volksbegriffs des Grundgesetzes steht.

Logo der „Alternative für Deutschland“ (AfD)

Dem Islam werden durch die kontinuierliche Propagierung einer drohenden „Islamisierung unserer Heimat“ Eroberungstendenzen unterstellt. Ein AfD-Kreisverband warnte sogar auf Facebook vor einem geheimen Plan, „Europa mit Migrationswellen zu islamisieren“, und schrieb:

„Was man früher durch Krieg erreichte, erreicht man so sukzessive über drei bis vier Generationen durch Einwanderung und Geburtenüberschuss.“
(Facebook-Eintrag, 23. Juni 2022)

Festzustellen sind zudem Diffamierungen und Verunglimpfungen politischer Gegner sowie des Staates und seiner Repräsentanten, die nicht eine Auseinandersetzung in der Sache, sondern eine generelle Herabwürdigung und Verächtlichmachung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland zum Ziel haben. Innerhalb der AfD gingen extremistische Strömungen zudem gestärkt aus den Vorstandsneuwahlen auf dem Bundesparteitag im Juni 2022 hervor.

Nach eigener Aussage hatte die 2013 gegründete Partei im Juli 2022 circa 28.500 Mitglieder. Angesichts der weiterhin bestehenden inhaltlichen Heterogenität innerhalb der Partei können allerdings nicht alle Parteimitglieder als Anhänger der extremistischen Strömungen betrachtet werden. Nach den Wahl- und den Abstimmungsergebnissen beim Bundesparteitag vom 17. bis 19. Juni 2022 in Riesa (Sachsen) sowie aufgrund von Äußerungen von Parteifunktionären kann aber davon ausgegangen werden, dass gegenwärtig schätzungsweise ein extremistisches Personenpotenzial von etwa 10.000 Personen innerhalb der AfD anzunehmen ist.

Die 2013 gegründete „Junge Alternative für Deutschland“1 (JA) wurde seit Januar 2019 vom BfV als Verdachtsfall eingestuft. Das VG Köln (Nordrhein-Westfalen) bestätigte diese Einstufung mit noch nicht rechtskräftigem Urteil vom 8. März 2022.

Nach Ansicht des Gerichts bestehen tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine zentrale politische Zielvorstellung der JA (Verdachtsfall) der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand sei und ethnisch „Fremde“ nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollten. Ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff verstoße gegen die Menschenwürde. Führende Funktionäre der JA vertreten weiterhin entsprechende Positionen und wiederholen diese auch nach der Entscheidung des VG.

Beispielhaft dafür stehen Bezugnahmen auf das Narrativ des „Großen Austauschs“. Der Erhalt des „autochthonen Staatsvolkes“ und der Widerstand gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung werden damit zum obersten politischen Ziel erklärt. So äußerte sich ein JA-Bundesvorstandsmitglied in einem Facebook-Eintrag im April 2022 wie folgt:

„Der große Austausch schreitet voran. Bereits über 27% Nichtdeutsche in Deutschland und die Zahl wächst unaufhörlich. Nie zuvor gab es mehr Ausländer und prozentual weniger Deutsche in Deutschland. (…) Defakto ist dies eine entdeutschung Deutschlands. (…) Die Substanz erodiert jeden Tag mehr.“
(Facebook-Eintrag, 12. April 2022)


Die JA (Verdachtsfall) ist die offizielle Jugendorganisation der AfD. Sie bestand im Berichtsjahr aus 16 Landesverbänden und hatte laut eigenen Angaben rund 2.000 Mitglieder. Im Berichtszeitraum wurde die personelle und strukturelle Vernetzung mit Organisationen und Protagonisten der extremistischen Neuen Rechten weiter vorangetrieben. Neben den fortbestehenden Verbindungen zu neurechten Organisationen und der fortgesetzten Propagierung ihrer politischen Standpunkte zeugen auch die Ergebnisse der Vorstandswahlen im Rahmen des JA-Bundeskongresses im Oktober 2022 in Apolda (Thüringen) von einer zunehmenden Verfestigung extremistischer Positionen innerhalb der JA.

So ist die Zusammensetzung des neuen Bundesvorstands Ausdruck einer Dominanz des sogenannten solidarisch-patriotischen Lagers innerhalb der JA. Keines der neugewählten Vorstandsmitglieder ist mehr dem eher „gemäßigten“ Lager der JA zuzurechnen.

1 Mit Stillhaltezusage vom 14.06.2023 hatte das BfV erklärt, die Einstufung der JA als gesichert extremistische Bestrebung bis zu einer Entscheidung der beschließenden Kammer im Eilverfahren vorläufig auszusetzen, die JA einstweilen lediglich als Verdachtsfall zu bearbeiten und sie bis zur Entscheidung nicht öffentlich als gesichert extremistische Bestrebung zu bezeichnen. Das VG Köln hat am 05.02.2024 entschieden, dass die Einstufung der JA als gesichert extremistische Bestrebung durch das BfV nach summarischer Prüfung rechtmäßig ist. Daher wird die JA seit dem 05.02.2024 vom BfV wieder als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft.

Das Netzwerk der Neuen Rechten

Unter die Bezeichnung Neue Rechte wird ein informelles Netzwerk von Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen gefasst, in dem nationalkonservative bis rechtsextremistische Kräfte zusammenwirken, um anhand unterschiedlicher Strategien teilweise antiliberale und antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchzusetzen. Hierfür werden parlamentarische und außerparlamentarische Bewegungen, metapolitische Theoriebildung und Praxis – also die Einflussnahme auf den vorpolitischen Raum, die den Boden für die erfolgreiche politische Verwirklichung dieser antidemokratischen Positionen bereiten soll – mit Protest- und Demonstrationsinitiativen eng verzahnt.

Facebook-Profilbild des „Instituts für Staatspolitik“ (IfS)

Die Akteure der Neuen Rechten sind untereinander gut vernetzt und füllen innerhalb dieses Netzwerks unterschiedliche und teils komplementäre Funktionen und Rollen aus, die dem gemeinsamen Ziel einer „Kulturrevolution von rechts“ dienen sollen und sich jeweils an unterschiedliche Zielgruppen richten. Sie verstehen sich als Strategen („Institut für Staatspolitik“ – IfS), Journalisten („COMPACT-Magazin GmbH“), Netzwerker („Ein Prozent e.V.“), Verleger („Verlag Antaios“, Verdachtsfall) oder Aktivisten („Identitäre Bewegung Deutschland“, IBD).

Das „Institut für Staatspolitik“ (IfS) wurde im Mai 2000 als eingetragener Verein („Verein für Staatspolitik e.V.“) gegründet. Sitz des Vereins ist der Ortsteil Schnellroda in der Gemeinde Steigra (Sachsen-Anhalt).
Das IfS hält am Ethnopluralismus fest und orientiert sich an einem ethnisch-abstammungsmäßig definierten Volksbegriff. Darüber hinaus finden sich beim IfS auch geschichtsrevisionistische Positionen.

Mehr zum Thema: „BfV stuft „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und „Ein Prozent e.V.“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen ein“

Das IfS sieht sich als prägender Ideen- und Impulsgeber der Neuen Rechten und publiziert neben der Zeitschrift „Sezession“ mehrere Buch- und Schriftenreihen. Reichweite innerhalb der Neuen Rechten entfaltet insbesondere der Onlineblog „Sezession im Netz“. Darüber hinaus organisiert das IfS regelmäßig Veranstaltungen und mehrtägige Kongresse, die als „Akademien“ bezeichnet werden.

Die „COMPACT-Magazin GmbH“ ist ein multimedial ausgerichtetes Unternehmen. Neben dem Hauptprodukt, der seit Dezember 2010 herausgegebenen Monatszeitschrift „COMPACT-Magazin“, zählen umfangreiche Online-Angebote wie eine eigene Website, ein Internet-Videokanal, Präsenzen in den sozialen Medien zu den Angeboten von „COMPACT“ und das wochentäglich ausgestrahlte Online-TV-Format „COMPACT. Der Tag“. „COMPACT“ verbreitet in seinen unterschiedlichen Publikationen antisemitische, minderheitenfeindliche, geschichtsrevisionistische und verschwörungsideologische Inhalte und agitiert gegen die parlamentarische Demokratie. Verschwörungsideologische Erzählungen werden dabei von „COMPACT“ politisch instrumentalisiert, um staatstragende Institutionen und das Konzept einer offenen, pluralistischen Gesellschaft zu diskreditieren.

Thematisch dominierten im Berichtsjahr eine prorussische Berichterstattung zum Angriffskrieg gegen die Ukraine und die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten. Im Zuge dessen wurde im Frühjahr 2022 eine groß angelegte Kampagne mit dem Slogan „Frieden mit Russland“ vorangetrieben und in der zweiten Jahreshälfte versucht, das Narrativ eines „Heißen Herbstes“ in die Leserschaft zu tragen.

Logo von „Ein Prozent“



Die Gruppierung „Ein Prozent“ besteht seit Herbst 2015 und ist seit April 2016 ins Vereinsregister eingetragen. Sie treibt in intensiver finanzieller und ideeller Form die Unterstützung, Bewerbung und Förderung verschiedener Organisationen, Gruppierungen und Einzelpersonen, insbesondere aus dem Spektrum der Neuen Rechten, voran und vernetzt sie miteinander.

„Ein Prozent“ versucht primär, eine kulturelle Deutungshoheit im vorpolitischen Raum zu erringen und eine „Gegenkultur“ zu schaffen.
Darunter ist eine szenetypische Kultur zu verstehen, die einer aus Sicht des Vereins „etablierten“ Kultur in Deutschland, die sich aus der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ergibt, entgegengesetzt ist. „Ein Prozent“ vertritt einen ethnisch-abstammungsmäßig definierten Volksbegriff, weist eine migranten- und muslimfeindliche ideologische Ausrichtung auf und propagiert das verschwörungstheoretische Konzept des „Großen Austauschs“.

Mehr zum Thema: „BfV stuft „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und „Ein Prozent e.V.“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen ein“


Der „Verlag Antaios“ (Verdachtsfall) wurde im Jahr 2000 gegründet und zunächst bis zum Jahr 2012 unter dem Namen „Edition Antaios“ geführt. Er hat seit 2003 seinen Sitz in Schnellroda (Sachsen-Anhalt), wo auch das IfS ansässig ist. Zur Autorenschaft zählen ehemalige und aktive Protagonisten der „Identitären Bewegung“ in Deutschland und Österreich. Darüber hinaus weisen verschiedene Personen eine Doppelautorenschaft beim „Verlag Antaios“, in der Zeitschrift „Sezession“ des IfS und im „COMPACT-Magazin“ auf. Durch diese Kooperationen und Überschneidungen werden auch Positionen dieser Akteure über den „Verlag Antaios“ transportiert. Im Verlagsprogramm fanden sich auch im Jahr 2022 Publikationen, in denen die auf Verschwörungstheorien basierende Idee des „Großen Austauschs“ beziehungsweise das Ideologiemerkmal des Ethnopluralismus thematisiert wurden.

Facebook-Profilbild der „Identitären Bewegung“



Die „Identitäre Bewegung Deutschland“ (IBD) bezeichnete sich auf ihrer Website selbst als „außerparlamentarische“ und „patriotische Jugendbewegung“ und ist mit regionalen Untergruppen bundesweit aktiv. Die IBD nutzt intensiv soziale Medien und ist neben der Internetplattform Telegram unter Profilen, die vordergründig keinen Bezug zu ihr vermuten lassen, auf Twitter und Instagram aktiv. Im Jahr 2022 verfügte die IBD wie im Vorjahr über etwa 500 Mitglieder und Anhänger. Die IBD vertritt das Konzept des Ethnopluralismus, das auf der Vorstellung einer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in einem ethnisch und kulturell homogenen Staat basiert.

In Ermangelung diskursbestimmender Botschaften konnte die IBD im Berichtsjahr kaum medienrelevante Aktionen durchführen. Die breiteste mediale Resonanz erzeugte im Berichtsjahr eine Protestaktion der IBD gegen die Sanktions- und Energiepolitik der Bundesregierung am 29. August 2022 in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern), bei der die Inbetriebnahme der Gaspipeline „Nord Stream 2“ gefordert wurde.